Beim UTMB wurden in diesem Jahr in jeder Hinsicht Grenzen verschoben. Es war ein Rennen der Rekorde und für viele ein Rennen am Limit. Auch mich brachte der TDS an die Grenzen des Machbaren.

    Zum ersten Mal werden wir mit tosendem Applaus an der Verpflegungsstelle in Les Contamines von den freiwilligen Helfer:innen und dem medizinischen Personal empfangen. Das wiederholt sich an der allerletzten Verpflegungsstation in Les Houches, 8 Kilometer vor dem Ziel in Chamonix. Viel Respekt bekommen wir als TDS Teilnehmer:innen gezollt, jedenfalls von denen, die um die Schwierigkeit der Strecke wissen und ein echtes Herz für den UTMB haben. Abseits eines wahnwitzigen Trubels und einer Kommerzialisierung par excellence. Doch auf sich allein gestellt in den Bergen, im stetigen Kampf mit sich selbst und dem Zeitlimit, dort, wo die Berglandschaft für jede Qual entschädigt, für imposante Sonnenuntergänge und einzigartige Tagesanbrüche sorgt, für Himmel voller Sterne zum Greifen nahe und ich in meiner ganz eigenen Welt unterwegs bin, verliere ich keinen Gedanken an Kommerz und Medieninszenierungen.

    „Like never before“ heißt der neue diesjährige UTMB Slogan, der in vielerlei Hinsicht zutrifft. Die Handschrift der IRONMAN Group ist deutlich zu spüren: cleanes Design in ganz Chamonix, die klaren Strukturen eines großen Event-Konzerns sind deutlich erkennbar, ob Hinweisschilder zur Expo, zu den Shuttle-Bussen oder im neu gestalteten UTMB Merchandise-Zelt. Die Romantik des ehedem etwas chaotisch anmutenden „Salon d’Ultra Trail“ ist einer UTMB Village gewichen, Chamonix selbst platzt aus allen Nähten. Gesehen werden zählt dabei fast mehr als die Leistung derjenigen, die sich auf die Strecke begeben. Die Romantik der verrückten Bergläufer:innen, die sich in den Kopf gesetzt haben, den Mont Blanc zu umrunden, der Esprit des früheren UTMB von Chamonix, der seit dem Bestehen des Rennens zusehends weniger geworden ist, ist fast völlig verschwunden und zu einem großen Trailrunning-Zirkus geworden. Mit dem sich heutzutage viel Geld verdienen lässt, wenn man es richtig anstellt. Das hat die IRONMAN Group mit ihren Partnern in ihrem ersten UTMB-Jahr mehr als deutlich gezeigt. Und die Grenze des Machbaren ist noch lange nicht erreicht.

    Und dennoch sind wir ergriffen, als wir in Courmayeur am Dienstag um Mitternacht auf der italienischen Seite des Monte Bianco an der Startlinie stehen. 145 Kilometer und 9.100 Höhenmeter in technisch anspruchsvollem Gelände, das ist der neue TDS seit 2019, bei dem die Streckentüftler gegenüber der ursprünglichen Version noch so einiges drauf gepackt haben. Mit dem Startschuss traben wir los – durch die engen Gassen von Courmayeur bis uns die erste Stille der Nacht ereilt. Die allerdings nicht lange anhält, denn ein Blick auf die Uhr verrät, dass es für mich schon mit dem ersten Cut Off am Lac Combal äußerst eng wird. Ganze 2 Sekunden davor komme ich hier an, kurz davor, die Segel jetzt schon zu streichen. Aber wir haben zu viel investiert, als dass ich mich hier sang- und klanglos verabschieden könnte. Also weiter kämpfen. Schließlich wartet Gritt in Bourg Saint-Maurice nach gut 50 Kilometern auf mich, um mir die erlaubte Assistenz zukommen zu lassen. Bis dahin sollte ich es doch irgendwie schaffen.

    „Schuhe“ brülle ich ihr zu. 20 Minuten Zeit habe ich maximal, um den Verpflegungspunkt wieder zu verlassen. Gritt hat alles vorbereitet. Die Wechselschuhe stehen bereit, genauso wie Getränke und Essen. Für 7 Minuten den Rucksack abnehmen, alles reinstopfen, was dem entkräfteten Körper irgendwie wieder Energie verschafft. Ich bin verzweifelt, weil ich weiß, dass es eigentlich nicht mehr zu schaffen ist. Gritt setzt mir den Rucksack auf, während ich einen letzten Bissen von irgendetwas in den Mund stopfe und sie schiebt mich mehr zurück auf die Strecke als dass ich mich vorwärts bewege. Aber Aufgeben ist eben für uns keine Option.

    Auf wundersame Weise finde ich einen neuen Rhythmus, einen besseren und verschaffe mir mit jedem Kilometer mehr Puffer vor den jeweiligen Zeitlimits. Die Berge sind so steil, dass es kaum möglich erscheint, vorwärts zu kommen. Aber bergauf liegt mir. Die ersten Teilnehmer:innen kommen mir entgegen und die Zweifel sind wieder da, die Ziellinie in Chamonix überhaupt erreichen zu können. Bergab werde ich immer wieder überholt, weil die Angst in den technischen Passagen einen Fehler zu begehen, überwiegt. Am Passeur de Pralognan warten die Bergführer auf uns und begleiten die unsicheren Teilnehmer:innen den schwierigen Abstieg hinunter. Man hat aus dem Unfall im vergangenen Jahr gelernt. 

    Irgendwo in der Dunkelheit geht plötzlich die Schnalle meines Rucksacks kaputt. Ich kann nur noch das obere Brustband schließen. Der Rucksack wird unbequem, schlackert hin und her und ich schicke Gritt eine Nachricht, dass ich einen Ersatz benötige. Sie macht sich nach einem denkbar kurzen Aufenthalt in unserer Unterkunft in Chamonix direkt wieder auf den Weg nach Beaufort – der nächsten Stelle, an der Unterstützung erlaubt ist. Auch Gritt schlägt sich somit zwei Nächte um die Ohren.

    Plötzlich habe ich satte 90 Minuten vor dem Zeitlimit. Gritt hat in Beaufort alles bestens organisiert, kümmert sich um das Umpacken und das Montieren des Zeitmesschips am Ersatzrucksack, während ich 15 Minuten Schlaf auf einer Sportmatte gönne. Der einzige Luxus, den ich für die nächsten 15 Stunden bekomme. So komfortabel der Vorsprung heraus gelaufen war, so schnell schmilzt er wieder. Auf dem Weg zum Col du Joly verlassen mich die Kräfte und die Müdigkeit übermannt mich mit voller Wucht. Ich schleppe mich vorwärts, denn jeder zurückgelegte Meter zählt. Das Scheitern scheint mittlerweile fest zu stehen. 

    Es sind noch ungefähr 17 Kilometer bis zum Ziel als ich diese Wanderschilder zum Col de Tricot, dem letzten Berg entdecke. Die Zeit ist mit 2:25 Stunden angegeben. Das würde heißen, ich käme weit nach dem Zeitlimit am Gipfel an. Zwischen Verzweiflung und Kampfeslust hole ich alles aus mir heraus und hetze den Berg hinauf. Hinabsteigende Wanderer versperren immer wieder den Weg, doch ich schließe zu anderen Läufern auf und kann noch ein paar Plätze gut machen. Am Gipfel komme ich wie durch ein Wunder oder eben auch das passende Kopfkino rechtzeitig an. Der Bergführer schaut mir skeptisch in die Augen, vermutet das Blut an der Nase klebt und ich versichere atemlos, dass es Schokolade sei. Ich erhasche zwei Becher Cola und eile davon, bevor er es sich anders überlegt und mich aus dem Rennen nimmt.

    Auf dem Papier nur noch der Abstieg nach Les Houches, aber es wäre nicht der TDS, wenn es nicht doch noch die eine und andere kleine Herausforderung geben würde. Ein paar Kletterpartien über steile Felsen, zwei weitere seilgesicherte Passagen, bis zum Schluss bin ich gefordert. In Les Houches dann der tosende Applaus. „Es sind noch 8 Kilometer bis zum Ziel“ versichert mir ein älterer Helfer, ein Haudegen, ein Bergmensch mit gegerbter Haut. Er klopft mir auf die Schulter und ich kann ihm gar nicht sagen, wie dankbar ich für diese kleine Geste bin. 

    Die letzten Kilometer kenne ich fast wie meine Westentasche. Insgesamt sieben Mal bin ich hier schon lang gelaufen, meistens aus Chamonix hinaus, also genau anders herum. Zwischen Gehen und ein paar Metern Joggen bewege ich mich vorwärts bis es mir endgültig reicht. Die letzten 1,5 Kilometer laufe ich, getragen von einer Welle der Begeisterung der Café- und Kneipenbesucher, die draußen sitzen, von fast allen Menschen, die mir Richtung Ziellinie begegnen. Endlich sehe ich Gritt, deren Gesicht jetzt schon vor Freudentränen glänzt. Ich vermisse den Teppich auf den letzten 100 Metern zum Ziel nicht, der erst ausgerollt wird, wenn die ersten CCC Läufer:innen das Ziel erreichen. Der blanke Asphalt spiegelt vielmehr die Leidenschaft wieder, die man für die Berge mitbringen muss, wenn man beim TDS an den Start geht. Mit fast letzter Kraft die Arme zum Jubel hochgerissen und endlich ist es geschafft. Nach 43:19 Stunden liegen Gritt und ich uns in den Armen, in dem Wissen, viel investiert, aber auch viel bekommen zu haben.

    Am Freitagabend schauen wir uns den Start zum UTMB an – Gänsehaut im Angesicht des Mont Blanc und die unbändige Lust, auf die Strecke zu gehen. Später verfolge ich am Abend den Live-Stream, bunte Bilder in Notre Dame de la Gorge vom „Hoka Tunnel“, eine Lightshow auf der Strecke, die die Teilnehmer:innen empfängt. Bunt, schrill und laut. Mit der Einsamkeit der Berge hat das nichts mehr zu tun. Und auch nicht mit einem Innehalten im direkten Angesicht der Kirche, die diesen Streckenpunkt eigentlich ausmacht. Der UTMB ist zu einer großen Show avanciert, die von einem längst vergangenen Mythos neu inszeniert wird. Wer die Anfänge und die darauffolgenden Jahre erlebt hat, der wird sich mit der neuen Entwicklung schwer tun. 

    Sportlich betrachtet hat der UTMB 2022 zweifelsohne historische Meilensteine gesetzt. Die Rekordjagd der Top-Athlet:innen war erfolgreich: An aller erster Stelle natürlich der Sieg von Kilian Jornet Burgada in einer magischen Zeit unter der 20 Stunden Marke (19:49h), auch der zweitplatzierte Mathieu Blanchard blieb unter 20 Stunden und kam nach 19:54h ins Ziel. Dritter wurde Tom Evans in 20:34h. Die Damenkonkurrenz entschied die US-Amerikanerin Katie Schide für sich. Beim CCC stellte der Schwede Petter Engdahl mit 9:53h ebenfalls einen neuen Streckenrekord auf. Was wir aus erster Hand und unmittelbarer Nähe erleben durften? Auch die Top-Athlet:innen sind keine Trailrunning-Maschinen, sondern eben doch nur Menschen mit einem starken Willen und einer großen Begabung, die im Berg genauso leiden wie die große Masse der Läufer:innen. Und gerade das macht sie so sympathisch. 

    Am Ende ist es eben doch eine große Familie, die auch in diesem Jahr am Fuße des Mont Blanc zusammen gekommen ist, um diesen Sport zu zelebrieren, die persönlichen Grenzen zu verschieben und grandiose Naturmomente zu erleben, vereint durch die Leidenschaft für die Berge. Vor allem das zeichnete den UTMB in Chamonix einmal mehr aus.

    Foto: Gritt Liebing
    2 Kommentare
    • Antworten Patrick J.

      29. August 2022, 15:18

      Hey Harald, Glückwunsch zum Finish und schöner Bericht! Ich war auch vor Ort habe es aber nur vom Streckenrand betrachtet und war froh, mal nicht über die lange Strecke zu „leiden“ 🙂 Lg Patrick

      • Antworten Harald Bajohr

        29. August 2022, 18:34

        Hallo Patrik, vielen lieben Dank! Es freut mich, wenn Dir der Bericht gefallen hat! Auch das Betrachten vom Streckenrand hat seinen Reiz – nach dem TDS hatten wir noch genügend Zeit, genau das beim UTMB zu tun. Liebe Grüße….

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