Es hat mich in den letzten Monaten oft zerrissen, wenn ich an meine alte Heimat in Nordhessen gedacht habe. Die Heimat und sein Heim zu verlassen und einen kompletten Neuanfang zu starten, ist niemals einfach. Um so weniger im gesetzten Alter. Neuer Job, neues Bundesland, neue Mentalität, neue Umgebung, neuer Dialekt, alles, wirklich Alles auf Neuanfang.
Das Laufen ein spärlicher Trost. Keine Motivation, neue Strecken zu finden. Keine Ziele, zu müde vom herausfordernden Alltag an einer Förderschule. Und dann taucht wie aus der Versenkung der Kyffhäuser Berglauf auf. Seines Zeichens der 46. Auch wenn die Skepsis überwiegt, gewinnt am Ende die Überzeugungskraft von Lebensgefährtin Gritt, die 400 Kilometer von mir entfernt ist, ein Ausrufezeichen zu setzen. Für (m)einen Neuanfang – beruflich, läuferisch und um die noch so fremde Umgebung zu meiner Heimat zu machen.
Natürlich ist es risikoreich und vielleicht sogar vermessen, an den Start eines Marathons zu gehen, wenn aktuell die Laufkilometer fehlen. Der längste Lauf seit Monaten 18 Kilometer, damit lässt sich kein Blumentopf gewinnen. Die Aussicht auf wunderbares, sommerliches Wetter lässt die Zweifel im Sonnenschein etwas verblassen. Bad Frankenhausen gerade einmal 30 Kilometer von meinem momentanen Durchgangszimmer entfernt. Das neue Heim liegt genau gegenüber vom Kyffhäuser, leider ziehen sich die Renovierungsarbeiten weiterhin dahin. Sanierung statt Renovierung. Willkommen im Osten der Republik. Von Trübsal blasen allerdings keine Spur, dafür ist die Herzlichkeit hier in der Gegend und auch beim Kyffhäuser Berglauf Balsam auf die Seele.
Bei der Nachmeldung zum Marathon im Festzelt auf dem August-Bebel-Platz wird erst einmal ein Schnaps getrunken, dann darf ich die Startgebühr bezahlen. Die vielen Helfer:innen haben es sich verdient, sich einmal kurz zuzuprosten. Volkslauf-Atmosphäre pur. Ich fühle mich an meine Laufanfänge erinnert, damals als noch alles beschaulicher und weniger kommerziell zugegangen ist. Der Kyffhäuser ist fest in den Händen des Vereins, der mit Hilfe der Feuerwehr, lokalen Sponsoren und der Bundeswehr die Veranstaltung Jahr für Jahr auf die Beine stellt.
Am nächsten Tag pünktlich um 8:30 Uhr der Startschuss zum Bergmarathon. Die vielen anderen Wettbewerbe werden später gestartet. Ein paar Meter Asphalt und bergauf, dann entlang einer saftig-grünen Wiese, dann wieder Asphalt bis zum ersten Schotterweg. 10 Kilometer sind absolviert und die erste Verpflegungsstelle erreicht. Wasser, Cola, Bier – das war´s. Nebenbei bemerkt: Wer hier laufen möchte, sollte sich selbst um seine Verpflegung kümmern. An vier V-Punkten gibt es Bananen, Zitronen und Äpfel – für verwöhnte Laufgemüter ist diese Verpflegung sehr basic. Auf den Haferschleim („der ja viel besser ist als beim Rennsteiglauf“) verzichte ich oben am Kyffhäuser. Bis dahin ist die Hälfte absolviert. In Tilleda feuert mich eine Kollegin an. Aufmunterung an der Strecke, die unendlich gut getan hat nach 15 Kilometern.
Bis zum Kyffhäuser hoch führt die Strecke über teils wunderschöne Waldpfade, dann wieder Schotterwege. Ich kann so weit gucken wie das Auge reicht. Meistens ist weder jemand vor mir, noch hinter mir zu sehen. Diese lange Geraden zermürben. Über 150 Teilnehmer:innen nehmen die Marathonstrecke in diesem Jahr in Angriff, mit immerhin 700 Höhenmetern keine anspruchslose Sache. Irgendwo jenseits der 30km überholt mich ein Mitläufer, bietet mir Magnesium an, das ich dankend annehme. Hier herrscht wenig Selbstdarstellung, mehr Miteinander. Man freut sich, dass man hier laufen darf, dass es Menschen gibt, die sich für die Laufbewegung engagieren und diese tolle Veranstaltung am Leben erhalten.
Gefühlt geht es immer noch nur bergauf. Kein Wunder, denn die letzten drei Kilometer sind relativ steil. In meinem Körper ächzt und stöhnt alles, aber am Ende ist das Ziel erreicht. Ich bin glücklich, dass es vorbei ist. Ich bin glücklich, teilgenommen zu haben. Ich bin einfach glücklich, wieder das Gefühl zu haben, ein Läufer zu sein und nicht nur ein Heimatloser.
Am nächsten Morgen in der Schule begegnet mir ein im Heim lebender Schüler mit der Medaille um den Hals. Eine Schülerin ebenfalls ein Heimkind bekundet, dass sie mich beim Start gesehen hat. Sie beide sind beim 6 Kilometer Walking gestartet – Initiative der Kinderheime, ihren Bewohner:innen an diesem Wochenende etwas sportliche Abwechslung zum Alltag zu verschaffen. Wir tauschen uns im Unterricht über die Veranstaltung aus, Laufen verbindet, auch jung und alt. Im Kollegium neugierige Blicke, wie ich mich von den Klassenräumen ins Lehrerzimmer bewege, ich ernte Anerkennung, antworte auf ein paar Fragen zum Lauf und ein zaghaftes heimatliches Gefühl macht sich in mir breit. Kyffhäuser – ich danke Dir.
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