Getrennte Wege, ein gemeinsames Ziel - für den UTMB 2021 haben wir alles auf eine Karte gesetzt und jetzt, kurz vor dem Start trennen sich unsere Wege.
    Letztes Relaxen vor dem Weg zum Champ du Savoy / Foto: Gritt Liebing

    Gritt – Start:

    Der Mont Blanc strahlt im Sonnenschein, Harald strahlt eher von innen. Die Anspannung ist für mich spürbar und ich versuche die Tränen zurückzuhalten, bis ich ihn auf der großen Wiese in seiner Starterzone hinterlasse. Seinen Start werde ich das erste mal nicht live sehen, denn ich bin auf einer Journalisten-Tour, um die Top-Athleten zu begleiten. Diese Tour startet direkt nach dem Start der Top-Athleten um 17:15h, also 45 Minuten vor Harald’s Start. Ich bin aufgewühlt, freue mich sehr auf die Tour. Unsere Gruppe besteht aus 7 Journalisten, überschaubar. Und unserem Guide Sébastien, einer französische Frohnatur mit einer Passion für die Berge, seines Zeichens auch ausgebildeter Bergführer. 

     

    Harald- Start:

    Es ist warm an diesem Freitagnachmittag. Ich liege in der großen Startbox auf dem Champ de Savoy. Gerade wird auf der großen Leinwand der Start der Top-Athleten und der ersten Startgruppe übertragen. 30 Minuten später folgt der Start der zweiten Gruppe und unsere letzte Gruppe darf sich um 18:00 Uhr auf den Weg machen, den Mont Blanc zu umrunden. Ich schließe die Augen, versuche zu entspannen. Mein Kopf ist leer. Frau Poletti streift über das Feld der Wartenden und begrüßt nahezu jede(n)Teilnehmer(in) persönlich. Das Getöse, eine immer wieder kehrende Mischung aus Party-Musik und Moderation, dringt aus den Lautsprechern am Platz vor der Kirche zu uns herüber. Die Worte „Respekt und Solidarität“ dringen in meinen Kopf. Alle knien plötzlich nieder, erheben sich wieder und endlich dürfen wir Richtung Start marschieren.

    Die Läufermasse setzt sich für ein paar Meter in Bewegung und schließlich erscheint die Startlinie vor uns. 17:40 Uhr und die Leere im Kopf weicht der Anspannung. Was wird uns auf den nächsten 172 Kilometer und 10.055 Höhenmeter erwarten? Dann geht plötzlich alles so schnell. Eine Läuferwelle, das Victory-Zeichen wird von uns auch noch gefordert und um 17:58 Uhr überschreite ich die Startlinie. Die ersten Meter im Laufschritt durch Chamonix fühlen sich gut an. Endlich in Bewegung!

    Harald – 1. Nacht:

    Auf dem Downhill Richtung Saint Gervais bei Km21 erwischt uns die Dunkelheit. Mein Plan, bis zur Verpflegungsstelle ohne Stirnlampe zu laufen, scheitert. Irgendwo auf diesem steinigen Trail durch den Wald halte ich an und fische meine Stirnlampe aus dem Rucksack. Das gleißende Licht ist zunächst ungewohnt, die Augen müssen sich erst einmal daran gewöhnen. Einen ersten magischen Moment durften wir beim Aufstieg auf den Le Delevret erleben. Die Kulisse der Bergwelt in gleißendes Abendrot gehüllt. Die Sonne küsst zum Abschied des Tages die umliegenden Gipfel. Nur für einen kurzen Moment und doch ein Moment für die Ewigkeit. Mit Asphalt unter den Füßen renne ich in Saint Gervais der Verpflegungsstelle entgegen. Schnell die Trinkblase aufgefüllt, Obst, zwei Scheiben Baguette mit Käse und weiter gehts. Mein Gel-Vorrat ist bereits um 5 Stück reduziert. 10 sind noch an Bord, dazu zwei Riegel. Exakt 52 Minuten vor dem Cut-Off. 

    Ab Les Contamines Montjoie geht es auf den Col du Bonhomme. Das Wetter ist gnädig, es ist nicht besonders kalt und vor allem trocken. Der Aufstieg auf den ersten „richtigen“ Berg auf über 2.400 Metern ist eine erste technische Herausforderung. Der Abstieg nicht wesentlich einfacher. Mehr oder weniger direkt folgt der zweite Berg: Zunächst der Col de la Seigne, der technisch etwas einfacher, aber ebenfalls brutal steil ist. So langsam lässt sich die Morgensonne sehen und schickt ein bisschen Wärme. Bis hierher habe ich noch keine Pause gemacht, auch kein kurzes Sitzen an den Verpflegungsstellen. Jetzt merke ich, wie mir die Luft so langsam ausgeht. Die Müdigkeit übermannt mich und ich habe das Gefühl, stehend k.o. zu sein. Jeder Schritt ist eine Qual und ich weiß, dass in unmittelbarer Nähe nicht nur der Gipfel des Col de la Seigne wartet, sondern mit dem Col des Pyramides Calcaires auch der höchste Punkt der Strecke auf über 2.500 Metern Höhe und für mich eine technische Herausforderung. Der nächste Felsen, der eine Sitzfläche bietet, gehört mir! Ich lasse die Stöcke fallen, nehme den Rucksack ab, setze mich und vergrabe den Kopf zwischen meine Arme.

    Gritt – 1. Nacht:

    Der kleine Bus fährt Richtung Les Houches, meine Gedanken schweifen zu Harald, der jetzt startet und ich drücke die Tränen nach innen, versuche mich auf der Hier und Jetzt zu konzentrieren. Unser erster Stopp ist in Saint Gervais, der ersten Verpflegung mit Cut-Off. Für uns stehen französische Spezialitäten und Getränke bereit, für deren Genuss wir zunächst unseren Impfnachweis vorzeigen müssen, Sicherheit geht vor. So richtig genießen kann ich weder das Essen, noch die Ankunft der ersten Athleten – obgleich mein Beifall und Respekt für sie groß sind. Das Livetracking auf meinem Handy funktioniert nicht und so habe ich keine Ahnung, wo Harald unterwegs ist. Fast eine Folter, vielleicht aber auch Fügung, denn so tauche ich einfach ein in die Welt der Top-Athleten und genieße das Privileg, diese begleiten zu dürfen. Und ich habe das positive Gefühl tief in mir, dass es bei Harald läuft, im wahrsten Sinne des Wortes. Von Saint Gervais geht es vorbei an Les Contamines Montjoie bis zum nächsten Halt in Notre Dame de la George am Aufstieg zum Col du Bonhomme. Ein Lagerfeuer leuchtet mir entgegen während unsere Gruppe ein Stück hinauf wandert. Fast schon romantisch mit der beleuchteten Kirche im Hintergrund. Steil, sehr steil und felsig und für mich in dem Moment unvorstellbar, wie Harald hier hoch läuft. Die ersten Läufer werden hier gefeiert, viele begeisterte Zuschauer säumen den Anstieg und pushen die Athleten nach oben. Wie eine Kette von Glühwürmchen leuchten die Stirnlampen entgegen und ich blicke in fokussierte Gesichter, unter anderem auch in das von Hannes Namberger. Ich klatsche, wage aber nicht seinen Namen zu rufen, denn das würde sich in dem Moment anfühlen, als würde ich ihn aus seiner Welt reißen. Sébastien verteilt am Bus Essen und Getränke. Hunger habe ich nicht, entscheide mich für frische Ananas. Durch die dunkle Nacht fahren wir zurück und zwischen Saint Gervais und Les Contamines Montjoie kommen uns an der Straße Läufer entgegen. Ob Harald da wohl dabei ist? Von der Zeit her könnte es sein. Das Livetracking funktioniert immer noch nicht und als wir wieder durch Saint Gervais fahren, ist die Verpflegungsstation schon fast abgebaut. Fast als ob hier nie etwas stattgefunden hätte. 

    Jetzt beginnt das eigentliche Abenteuer der Tour, denn wir fahren hoch in Richtung Lac Combal – auf schmalen Strassen, bei leuchtendem Mondschein und einem gigantischen Sternenhimmel. Das Livetracking vergesse ich für diese Zeit, tauche ein in die Bergwelt, die mich wie ein Mantel umhüllt. Als wir hier aussteigen stehen mir Tränen in den Augen, die Demut und Dankbarkeit dies erleben zu dürfen sinkt bis in mein Herz. Kalt pfeift uns ein eisiger Wind um die Ohren auf ungefähr 2000 Metern und wir bewegen uns in flottem Tempo in Richtung Verpflegungsstelle. Am Berg sieht man die Stirnlampen wie winzige Punkte die sich in Richtung See bewegen. Die romantische Vorstellung, die ich von den Verpflegungspunkten hatte, weicht ernüchternder Realität. Kein Ort an dem man sich länger aufhalten möchte. Wie ein Mahnmal das große Schild mit den Cut-Off Zeiten. Eine Wasserstelle zum Auffüllen der Getränkevorräte zur Selbstbedienung, nicht überdacht. Ein zugiges Zelt wo die üppige Verpflegung von super freundlichen Helfern gereicht wird. Eine seltsame Mischung aus Herzenswärme und Nüchternheit. Ich frage mich, warum ich Harald immer wieder ermutige, hier an den Start zu gehen. Ihn hinauszuschicken in diese seltsame und bizarre Welt mit schier unüberwindbaren Hindernissen. Die Vorstellung, dass man beim UTMB das Ziel erreichen kann, wird für mich zu einem Gedanken jenseits der Vorstellungskraft. 

    Unser nächster Halt ist das Mountain Sport Center in Courmayeur, die größte Verpflegungsstation wo auch die Wechselbeutel auf die Athleten warten. Der krasse Gegensatz zum Lac Combal, eine große, warm geheizte Halle mit Schlafgelegenheit. Die Zivilisation trifft mich unsanft, aber ich weiß zu schätzen, dass das Livetracking hier endlich funktioniert. Harald ist am Col du Bonhomme unterwegs, während die ersten Athleten fast lautlos durch die Halle zu schweben scheinen. Professionell werden fast wortlos von den Betreuern Essen und Getränke gereicht, eventuell noch eine Klamotte gewechselt, bevor es unter dem Applaus der Helfer und Journalisten weiter geht in die dunkle Nacht. Im Morgengrauen erreicht unser Bus Chamonix und ich bin dankbar und erfüllt. 

    Harald – Samstag:

    Ich schrecke aus dem Tiefschlaf hoch, werfe hektisch einen Blick auf meine Uhr. Ich wollte mir maximal eine 20-minütige Auszeit nehmen, es waren gerade einmal 5 Minuten, die ich im Tiefschlaf versunken war. Doch ich fühle mich fast wie neu. Ich stehe etwas schwankend auf, die Kühle des Morgens lässt mich kurz erschaudern, schnell den Rucksack auf, die Stöcke und weiter geht es steil bergauf. Der Weg zum Col de la Seigne zieht sich weiterhin wie Kaugummi, doch schließlich ist es geschafft. Die nächsten Höhenmeter Richtung höchster Punkt stehen an. Hier oben regiert eine bizarre Felslandschaft, als ob Gott mit Steinen gewürfelt hätte und die Pyramidengipfel die einzige Ordnung in diesem Chaos aus Felsen sind. Eine Herausforderung für mich, höchste Vorsicht beim Abstieg und mit angezogener Bremse. Mein Vorsprung vor den Zeitlimits schmilzt dahin. Am Lac Combal sind es noch 40 Minuten. Irgendwie motiviert es mich zu wissen, dass Gritt vor ein paar Stunden hier war, um die Top-Läufer anzufeuern. Ich beeile mich, voran zu kommen. Nur noch der Col Checrouit und dann wartet in Courmayeur schon mein Wechselbeutel auf mich. Die Sonne brennt vom Himmel und ich bereite meinen Plan im Kopf vor, was ich in Courmayeur machen werde. Kurze Hose auf jeden Fall, lange Hose in den Rucksack und essen einpacken. Dazwischen essen was geht und dann schnell weiter. Ich muss vor 13:00 Uhr aus Courmayeur raus, sonst werde ich ein weiteres Mal scheitern.

    Plötzlich höre ich eine Stimme und Gritt taucht wie aus dem Nebel meiner Gedanken vor mir auf. Ich weiß nicht, wie lange sie schon neben mir her läuft. Sie erzählt mir in deutlichen Worten, was ich zu tun habe, wo ich hin muss, damit sie mir helfen kann. Ich bin überglücklich, dass ich diese unerwartete Hilfe habe. Eigentlich möchte ich nur noch weinen, doch für Tränen ist keine Zeit. Ich muss einfach funktionieren. Bepackt mit Wechselbeutel und einem großen Teller Nudeln eile ich aus der Halle raus in die offizielle Assistenz-Zone. Alles geht so rasend schnell und um 12:56 Uhr bin ich wieder auf der Strecke.

    Auf den ersten Metern Richtung Bonatti überhole ich ein paar Mitläufer:innen. Das motiviert zunächst, doch schon bald ist die nächste Grenze des Machbaren erreicht. Es ist abartig steil, schon einmal eine gute Prüfung für den Aufstieg zum La Giete und dem Tete aux Vent, die noch auf mich warten. Falls ich überhaupt noch so weit komme. Die Zweifel sitzen mir im Nacken. Bin ich schnell genug, um das Zeitlimit in Arnouvaz zu erreichen? Bonatti ist jedenfalls geschafft. Die Sonne brennt vom Himmel und ich bin froh, auf die kurze Hose in Courmayeur gewechselt zu haben. Laut Plan geht es die nächsten 12 Km nur bergab, aber wie immer trügt der Schein. Kleine giftige Höhenmeter machen einen mühsam erarbeiteten Rhythmus wieder zunichte. Hier oben pfeift ein unangenehmer Wird, doch fürs Umziehen habe ich keine Zeit. Dann endlich der finale Abstieg zur Verpflegungsstelle nach Arnouvaz. Um 17:56 Uhr erreiche ich die Stelle, an der ich vor zwei Jahren das Rennen beenden musste. Mir fehlten 6 Minuten. Dieses Mal eile ich ins Zelt, möchte mich nicht lange aufhalten, werde aber von einem Helfer darauf hingewiesen, dass ich bei Verlassen der Verpflegungsstelle warme Sachen anziehen muss. Also erst die 3/4 Hose und meine warme Jacke, dann geht es 5 Minuten vor Cut-Off weiter. Schon auf den ersten folgenden Metern weiß ich, dass ich mehr anziehen muss. Es bläst ein eisiger Wind, es regnet, es stürmt, das Wetter zeigt sich von seiner wilden Seite. Anhalten, Regenkombi an und weiter geht es. Mühsam, Schritt für Schritt Richtung Grand Col Ferret. Mit jedem Höhenmeter wird der Wind eisiger, der Regen heftiger, die Nebelwand dichter. Die Läufer:innen vor mir sind kaum im Nebel zu erkennen, die Streckenmarkierung mit Mühe und Not. Jetzt zählt nur noch jeder Schritt, dem Gipfel entgegen. Endlich winkt mir der Bergführer zu, „well done, are you ok“, ich nicke nur mühsam, stemme mich gegen den Wind und mache mich an den Abstieg.

    Gritt – Samstag:

    Nach zwei Stunden Schlaf schrecke ich hoch, schaue auf das Livetracking, Harald läuft! Yes! Auch wenn wir ausgemacht hatten, dass ich nicht nach Courmayeur in die Assistenz-Zone komme, bereite ich alles vor, um dorthin zu fahren. Es ist diese magische Verbundenheit in der ich einfach spüren kann, was für ihn im Rennen jetzt wichtig ist. Ich packe einen Rucksack, schaue auf den Busfahrplan und gegen 11 Uhr schaut mich der Mont Blanc von der anderen Seite an. Obwohl erst wenige Stunden vergangen sind, seit ich im Mountain Sport Center in Courmayeur war, erscheint es mir wie in einer anderen Welt. Die Assistenz-Zone wurde von der Halle auf einen Parkplatz ins Freie verlegt. Die Stille der Nacht hat sich in ein buntes Läuferfeld und viele begeisterte Zuschauer im strahlenden Sonnenschein verwandelt. Mir ist schlecht und schwindelig: zu wenig Schlaf, zu wenig Essen, zu wenig Trinken. Quasi Seite an Seite mit Harald und dennoch in einem Paralelluniversum. Hoffentlich ist er nicht wütend, dass ich entgegen der Absprache hier bin, hoffentlich kann ich ihn aufbauen, die Gedanken kreisen während ich den Livetracker nicht aus den Augen lasse. Ich laufe ein Stück auf die Stecke und spende dankend angenommenen Applaus für die Läufer. Dann taucht Harald auf und in der Millisekunde des ersten Blickkontaktes erkenne ich: alles richtig gemacht. Er freut sich riesig, dass ich hier bin.

    In der Assistenz-Zone schütte ich den gesamten Inhalt des Wechselbeutels auf den Boden, Chaos pur, der Wind weht die Sachen durch die Gegend. Doch in meinem Kopf herrschen komplett klare Strukturen und während Harald sitzt, isst und trinkt, werden nebenbei Klamotten gewechselt, der Rucksack umgepackt und neu bestückt. Alles in Rekordzeit erledigt und zurück bleibt ein entschlossen weiter laufender Harald und eine Gritt im Chaos, aber mit einem Lächeln im Gesicht. Und mit sehr netten Begegnungen mit Österreichern die sich am selben Tisch wie wir niedergelassen haben. Als der Bus mich wieder in Chamonix absetzt und ich Richtung Unterkunft gehe, läuft Hannes Namberger an mir vorbei, in sechster Position in Richtung Ziel. Ich klatsche ihn ab, blicke auf den Mont Blanc, Gänsehaut breitet sich über den gesamten Körper aus und die Tränen kullern. Abends ein Spektakel am Himmel. Ein Regenbogen spannt sich oben in den Bergen über dem Zielbogen. Wieder Tränen, wieder Gänsehaut und Dankbarkeit! 

    Gritt – zweite Nacht

    Tränen sind dann auch der Begleiter der gesamten nächsten Nacht. Wie eine Irre starre ich auf das Livetracking am Laptop und auf dem Handy – parallel. Der Sinn dahinter ist nicht klar, aber ich bin nicht wirklich in der Lage klar zu denken. An Schlaf ist nicht wirklich zu denken. Ich verlasse immer wieder die Ferienwohnung, trotz grandiosen Ausblickes, sowohl auf den Zielbereich, als auch auf den Mont Blanc. Ohne Laptop, ohne Handy, nehme mir eine Auszeit vom Livetracking-Irrsinn. Ich frage mich immer wieder, warum ich Harald so sehr dabei unterstützt habe, noch einmal beim UTMB zu starten? Das ist für keinen von uns Spaß, aber trotzdem irgendwie magisch. Mit jeder neuen Zeit am Livetracker breche ich in Tränen aus, in einer Mischung aus Erleichterung und Stolz, dass Harald das Rennen so meistert. Er am Rande des Zeitlimits, ich am Rande des Wahnsinns.

    Harald – zweite Nacht

    Langsam wird es dunkler und dunkler. Das erneute Aufsetzen der Stirnlampe zögere ich so weit wie möglich hinaus. Ich möchte bis zur nächsten Verpflegung nur einmal halten und dann gleich die Regenkombi ausziehen. Ich suche die nächste Sitzgelegenheit und nutze die Chance auch gleich, die Schuhe von Steinen, Sand und Geröll zu befreien. Die Füßen fühlen sich schon ziemlich mitgenommen an, aber ich möchte keinen Blick riskieren. Kurz durchatmen, aufraffen, weiter gehts. Bis La Fouly habe ich so viel Zeit verloren. Ich erreiche den nächsten Verpflegungspunkt 9 Minuten vor Cut-Off. Eigentlich ist es jetzt nicht mehr zu schaffen. Trinken auffüllen, Essen, wie soll das gehen? Und es warten noch heftige Anstiege. Ich bin kurz davor, aufzugeben. Stattdessen funktioniere ich wie eine Maschine. Trinkblase auf, Wasser rein, zwei Stück Kuchen in den Mund, ein Stück Melone, ein Stück Käse ummantelt von zwei Scheiben Brot und nach drei Minuten bin ich wieder auf der Strecke. 6 Minuten vor Cut-Off. Plötzlich sind meine Mitläufer:innen verschwunden. Ich bin völlig alleine in tiefschwarzer Dunkelheit unterwegs. Ich beeile mich, vorwärts zu kommen, um Anschluss zu finden und tatsächlich taucht vor mir plötzlich ein Licht auf. Ich schließe zu einem französischen Laufkollegen auf, der einen super Rhythmus findet. Wie eine Klette verfolge ich ihn für die nächsten 5 Kilometer, so lange bis wir wieder an eine Gruppe Anschluss finden. Jetzt fühle ich mich nicht mehr ganz so verlassen und einsam. 35 Minuten vor dem Zeitlimit erreiche ich Champex-Lac um 1:55 Uhr. Der Körper ist ausgemergelt, ich bin einfach am Ende meiner Kräfte.

    Harald – Sonntag:

    Ich stolpere in der Nacht Richtung Schlucht von Bovine, wanke von links nach rechts. Es geht zunächst leicht bergab, mein Glück. Ich muss eine Pause machen, mir fallen im Gehen die Augen zu und ich habe das Gefühl, die Kontrolle komplett zu verlieren. In diesem Zustand kann ich auf keinen Berg mehr hoch. Neben mir taucht im Licht meiner Lampe ein Holzstapel auf. Rucksack runter, Stöcke fallen gelassen und ich lasse mich einfach unsanft fallen und schließe nach einem letzten Blick auf die Uhr die Augen. In diesem Moment ist mir einfach alles egal. Mein Bewusstsein funktioniert insofern, als dass ich bemerke, wie die Konkurrenz an mir vorbei zieht. In mir kämpft es. Bleibe ich zu lange hier, verliere ich den Anschluss. Laufe ich in diesem Zustand weiter, gehe ich ein gewisses Risiko ein. Nach 10 Minuten setze ich den Weg fort. Mehr schlecht als recht, aber ich suggeriere mir, dass bergauf meine Stärke ist. Der Aufstieg zum La Giéte wird zur Zerreißprobe, nicht weniger der Abstieg Richtung Trient. Doch der findet immerhin in der aufgehenden Morgensonne statt. Völlig erschöpft erreiche ich mit einem Puffer von 36 Minuten Trient. 16 Minuten gönne ich mir eine Auszeit von der Hatz.

    Jetzt durchströmt mich Motivation pur. Sonnenschein und die Gewissheit, dass ein Finish möglich ist, treiben mich vorwärts. Les Tseppes ist kein Problem für mich, der „kleine Hügel“ liegt mir, auch wenn sich der Downhill Richtung Vallorcine wieder einmal dahin zieht. Um 10:53 Uhr erreiche ich die letzte große Verpflegungsstation, um 11:00 Uhr bin ich wieder unterwegs Richtung Chamonix, Mit 15 Minuten Puffer. Ich weiß, dass es eng wird, ich weiß aber auch, dass ich es schaffen kann. Ich schaffe es sogar, ein paar hundert Meter zu joggen. In gleißender Hitze. Der Aufstieg zum Tête aux Vents funktioniert aus reiner Willenskraft. Felsbrocken um Felsbrocken hinauf auf noch einmal über 2000 Metern Höhe. Zum Glück bin ich in guter Gesellschaft. Läufer:innen vor mir und hinter mir, Bergwanderung:innen, die uns anfeuern. Endlich den Gipfel erreicht, es folgen noch schwere Meter auf dem Grat bevor es endlich Richtung La Flégère geht. Der letzten Zeitkontrolle entgegen. Die nächsten 271 Höhenmeter im Abstieg werden zu einem Höllenritt. Jegliche Vorsicht, jegliches Aufpassen ist verloren. Ich hetze vorwärts, zum Teil rutsche ich einfach auf dem Hintern die Felsbrocken hinunter, weil mir der Gleichgewichtssinn vollkommen abhanden gekommen ist. Ich habe für den Downhill exakt eine Stunde Zeit. Endlich taucht La Flégère vor uns auf, allerdings ist das, was wir vor uns sehen, noch nicht das Ende der Reise.Die Zeitnahme befindet sich noch ein paar hundert Meter hinter der Gaststätte. Ich lasse noch ein paar Läufer passieren, eine Britin, die kurz davor ist, die Nerven zu verlieren. Ich rufe ihr zu, dass sie es schafft, und dass sie einfach rennen soll. „Go, just run, run, run, we can make it, that´s for sure, but run!“ Endlich erreichen wir den Fuß der letzten Kontrollstation. Nur noch ein paar Höhenmeter und es ist geschafft, Um 14:35 Uhr hat die Hatz ein Ende. Ab jetzt gibt es keine Zeitkontrolle mehr, die Finisher-Weste gehört uns. Ich wanke an den kleinen Verpflegungstisch, gieße mir Cola hinein und endlich ist Zeit für die ersten Tränen. Kurz innehalten und es folgen die letzten 8 Kilometer Richtung Chamonix.

    Foto: Ildiko Wermescher

    Gritt – Sonntag:

    Chamonix 7:23 Uhr: ich schrecke aus dem Schlaf  hoch. Trient 7:24 Uhr: Harald läuft entschlossen weiter. Nur noch 3 Cut-Offs vor dem Ziel. Ich gönne mir ein wenig Ruhe und es macht sich eine Gewissheit breit, dass ich Harald als Finisher begrüßen werde. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht und ich balle die Faust! Yes! Fast schon entspannt mache ich einen kleinen Bummel durch Chamonix, zünde zwei Kerzen im Paroisse Catholique Saint Bernard du Mont Blanc an. Die Kirche direkt hinter dem Ziel, ein Ort zu dem es mich immer wieder hinzieht um die Gedanken zu sortieren. 

    Das Livetracking hatte immer mal wieder seine Hängerchen, war zeitverzögert, aber seit 11 Uhr gibt es keine Neuigkeiten. Es ist zwischenzeitlich 14 Uhr und ich möchte am liebsten ausrasten. Um 14:45 Uhr ist das letzte Cut-Off in La Flégère, keine Bewegung am Tracker. 14:35 Uhr: die Tränenflut ist kaum zu stoppen, die Technik funktioniert wieder, Harald ist in La Flégère, jetzt geht es nur noch dem Ziel entgegen. 15:14 Uhr: Ildiko und Otto sind an der Strecke, schicken Fotos von Harald. Da sieht er gut aus. Wieder Tränen, der Freude und ich bin den beiden so dankbar für diese Bilder.

    Foto: Gritt Liebing

    Harald – Finish:

    Auf dem Downhill kommen mir Ildiko und Otto Wermescher entgegen und feuern mich an. Begleiten mich ein paar Meter, gratulieren mir zu meiner Leistung. Aufmunterung pur kurz vor dem Ziel. „Jetzt sind es nur noch 3 Kilometer, du bist gut unterwegs“ sagt Otto. Ildiko macht ein paar Fotos und ich strenge mich an, sportlich voran zu kommen. Kurz bevor es über die Brücke Richtung Zentrum geht, noch einmal Schulter klopfen und dann folgt der Einlauf Richtung Ziel. Es gibt keine Worte, die beschreiben können, was ich empfinde. Gritt taucht in einer Wand aus Tränen vor mir auf und macht ein paar Bilder. Ich biege in Richtung Ziellinie ab, irgendwo noch Shakehands mit jemanden, dessen Stimme mir irgendwie bekannt vorkommt und dann die letzten Meter. Merci a Chamonix, die Hände zu einer müden, ehrfürchtigen Geste erhoben und endlich falle ich Gritt überglücklich in die Arme. Nach 46 Stunden und 12 Minuten hat die fantastische Reise ein Ende.

    Foto: Gritt Liebing

    Gritt – Finish:

    Die Emotionen die sich ein paar hundert Meter vor der Ziellinie, auf der Ziellinie und direkt dahinter entladen in Worte zu fassen, ist so gut wie unmöglich. Ein Gefühlschaos mit Tränen und Gänsehaut und die Gewissheit, dass das hier einer der allergrößten Momente ist, den wir Herz an Herz, im Inneren verbunden miteinander erleben durften. Diese Momente zeichnen das Leben aus, sind das, was wir für immer in unseren Seelen tragen und uns die tiefste Dankbarkeit schenkt. Für mich ist Harald ein Held und seine Leistung so unvorstellbar und unfassbar! Der Mont Blanc scheint uns zuzulächeln und hüllt uns in eine tiefe Demut!  

    Der Ultra Trail du Mont Blanc ist und bleibt ein Erlebnis, dass man nur beschreiben kann, wenn man selbst schon Teil davon war. Egal ob als Läufer, Helfer, Zuschauer, Supporter oder Organisator. Für jeden ist es anders, aber die Magie und die tiefen Emotionen vereinen alle miteinander!

    Wir freuen uns auf Deinen Kommentar!