98 Kilometer und 5.900 Höhenmeter liegen hinter mir und der UTMB 2019 ist für mich in Arnouvaz Geschichte.
    Stress pur auch für die Betreuer / Foto: Gritt Liebing

    Im Supermarkt fällt eine Flasche Bier neben mir aus dem Regal und zerspringt in tausend Scherben. Ein Blick auf die Uhr, es ist Cut Off in Arnouvaz. Scherben bringen Glück! Ich halte an der Hoffnung fest, dass Harald dem Zeitlimit entgegen aller meiner Rechnerei doch noch die Stirn bieten kann. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Als ich den Supermarkt verlasse, zuckt ein Blitz über Chamonix und ein Donnerschlag lässt mich erschaudern, es ist 18:21h am 31. August 2019 und Harald wird genau zu diesem Zeitpunkt aus dem Rennen genommen.

    Sechs Minuten zu spät, meine Berechnungen wurden leider Realität und ich sinke in mich zusammen und setze mich auf eine Mauer. Die Tränen fließen. Ich lebe Harald’s Läufe mit meiner ganzen Seele und wenn sein Finish stirbt, dann stirbt auch ein kleiner Teil von mir. Selbst zu scheitern ist einfacher, als die andere Hälfte von sich scheitern zu sehen. Es ist fast gespenstisch und irgendwie nicht von dieser Welt, was in diesen paar Minuten passiert. Zeichen? Oder die Magie des Mont Blanc? Die dunkle Seite des Weißen Berges? Oder einfach Zufall? Auf jeden Fall gibt es diese Verbindung zwischen mir, Harald und dem Mont Blanc.

    Bild: Gritt Liebing

    Während Gritt auf der Mauer in Chamonix sitzt und auf den Mont Blanc starrt, erreiche ich sechs Minuten nach dem Cut Off die Verpflegungsstelle in Arnouvaz bei Kilometer 98. 5.900 Höhenmeter liegen hinter mir und der UTMB 2019 ist für mich Geschichte.

    Kurz vor dem Startschuss schloss der Himmel seine Schleusen und die Atmosphäre in Chamonix kochte wie immer. In diesem Jahr auch aufgrund der schwül-warmen Temperaturen am Abend, die uns bis zum Samstagabend verfolgen sollten. Mental war ich eingestimmt und so lief ich locker los und konnte die ersten Kilometer richtig genießen. Der erste kleine Anstieg in Les Houches ließ meine Vorfreude auf die nächsten 162 Kilometer steigen, den ersten Downhill bewältige ich für meine Verhältnisse sehr gut und konnte einige Mitstreiterinnen und Mitstreiter überholen. Ich hatte einen komfortablen Vorsprung vor den nächsten Cut Offs herausgelaufen und freute mich, auf die tiefe Nacht. Auch wenn ich kurz vor Les Conatamines für einen kurzen Moment heftige Übelkeit verspürte, diese erste kleine Krise war ganz schnell überwunden.

    Sonne satt und ein fantastisches Panorama / Foto: Gritt Liebing

    Den Col Du Bonhomme kam ich erstaunlich gut hoch und auch der zweithöchste Punkt der Strecke, der Col de la Seigne machte mir in diesem Jahr keine Probleme. Pünktlich mit meinem Erreichen des Gipfels, zeigte sich die Sonne am blauen Himmel. Im vergangenen Jahr herrschten hier oben eisige Temperaturen, Sturm und Regen, weswegen der Col Pyramides des Calcaires ausgelassen wurde. In diesem Jahr gab es kein Erbarmen und wir durften die knapp 300 Höhenmeter hinauf zum 2.565 hohen Gipfels mitnehmen. Wegloses Gelände, lose Steine, Felsbrocken, als hätte der liebe Gott mit Steinen gewürfelt. Technisch nicht einfach der Aufstieg und hinab noch schwieriger. Trotz der technischen Herausforderungen lag ich gut im Rennen.

    Immer gut betreut von den Helfern / Foto: Gritt Liebing

    Mit zunehmender Zeit brannte die Sonne vom Himmel, der wir meistens schutzlose ausgeliefert waren. Mein großes Zwischenziel Courmayeur geriet gefühlsmäßig immer weiter weg als dass es näher kam. Dort wollte zum ersten Mal in meiner UTMB-Karriere Gritt auf mich warten und mir helfen, mich für die zweite Streckenhälfte zu wappnen. Meine Beine waren mittlerweile schwer wie Blei, ich brachte kaum einen Schritt vor den anderen, an Laufen war selbst auf den leichten Passagen bergab nicht zu denken. Ich stolperte mehr die 1.200 Höhenmeter Richtung Courmayeur entgegen als dass ich lief. Jede Hoffnung auf ein Finish hatte ich unterwegs begraben. Ich nahm meine letzten Reserven zusammen und lief endlich die letzten Meter des Downhills entschlossen Richtung Wechselstation entgegen und erreichte 35 Minuten vor Cut Off Courmayeur. Mit der festen Absicht, das Rennen zu beenden.

    Erwartete Zeiten in Courmayeur / Foto: Gritt Liebing

    Wir packen hektisch meinen Rucksack neu, die Klamotten liegen weit um uns verstreut, ich esse eine Handvoll Nudeln und Gritt redet mir gut zu, es noch einmal zu versuchen: „Laufe für mich weiter“ und ich sauge die Worte in mir auf, kratze den letzten Rest meines Willens zusammen und fokussiere mich auf das Fortsetzen des Weges. Raus aus Courmayeur erhole ich mich bergauf wieder, überhole ein paar Läuferinnen und Läufer und schöpfe Mut. Doch die nächsten fast 1000 Höhenmeter kosten fast mehr Kraft als ich aufbringen kann. Es ist so steil, dass ich befürchte, die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Drei- oder vier Mal nehme ich mir eine kurze Auszeit, setze mich, versuche zu trinken, esse ein oder zwei Gels. Andere Teilnehmer kommen mir entgegen – Richtung Courmayeur und haben das Rennen beendet. Sie säen weitere Zweifel in mir über mein Fortkommen.

    Und wieder hinaus aus Courmayeur / Foto: Gritt Liebing

    Endlich habe ich das Rifuge Bertone erreicht. Die nächsten 12 Kilometer kenne ich wie aus meiner Westentasche von meinen anderen Teilnahmen an dem UTMB und am Tor des Geants. Manchmal und in diesem Jahr ganz besonderes kein Vorteil. Ungeschützt sind wir der Sonne ausgesetzt. Für die nächsten 7 Kilometer benötige ich über zwei Stunden. Bis zum nächsten Cut Off in Arnouvaz vom Rifuge Bonatti sind es noch 5 Kilometer mit 110 Höhenmeter aufwärts und fast 500 im Abstieg. Innerlich habe ich aufgegeben, der Kampfgeist erloschen, es ist nicht zu schaffen. Und trotzdem bin ich hin und hergerissen zwischen „ich versuche zu rennen – koste es, was es wolle“ und „ das macht doch gar keinen Sinn“. Drei, vier Läuferinnen und Läufer rennen an mir vorbei fokussiert darauf, das Zeitlimit zu unterbieten. Dieser Fokus fehlt mir seit dem Rifuge Bertone. Ich erreiche Arnouvaz um 18:21, sechs Minuten nach dem Cut Off. Von ein paar Zuschauern ernte ich trotzdem Applaus und Respekt, doch ich habe das Gefühl, diesen nicht verdient zu haben. Trotzdem hält sich die Enttäuschung noch in Grenzen, als ich mit vielen anderen Läufern im Bus erst Richtung Courmayeur und schließlich Chamonix sitze. 187 Teilnehmer haben hier das Rennen verlassen.

    Die Schlussläufer / Foto: Gritt Liebing

    Erst am nächsten Tag nach vielen Gesprächen mit Gritt wird mir klar, was falsch gelaufen ist. Wir packen meinen Rucksack aus und stellen fest, dass die Trinkblase noch voll ist, selbst in den beiden Flasks befindet sich noch Wasser. Dazu gesellen sich 20 Gels, Riegel und alles, was man normalerweise während eines solchen Rennens zu sich nimmt. Mein Kopf hat einfach vergessen, dass der Körper Energie und Flüssigkeit braucht. Dazu gesellt sich das Gefühl, nicht fokussiert genug gewesen zu sein. Auf der anderen Seite weiß ich, dass ich während des Rennens alles aus mir heraus geholt habe. Im ersten Impuls will ich die Laufschuhe an den Nagel hängen, nach fünf Starts beim UTMB bin ich zum ersten Mal gescheitert – mehr an mir selbst als an der Strecke. Vielleicht sollte ich das einfach einmal so stehen lassen, vielleicht kann ich der Magie des Mont Blanc im nächsten Jahr erneut nicht widerstehen. Fest steht, der UTMB schreibt seine ganz eigenen Gesetze und in diesem Jahr hat mein innerer Richter ein Urteil getroffen, das mir mehr zu schaffen macht, als ich es vor meiner fünften UTMB-Teilnahme gedacht hätte.

    Nach knapp 100Km darf man trotzdem feiern / Foto: Blanca

    Wir nehmen eine Menge an Eindrücken, viele schöne Begegnungen, eine wunderbare Zeit im Angesicht des Mont Blanc mit nach Hause. Doch der UTMB hat sich verändert. Die Strecken des UTMB und des TDS sind nicht nur länger, sondern technisch auch anspruchsvoller geworden. Mit dem MCC und dem YCC hat die Veranstaltung dazugewonnen, um noch mehr Menschen die Teilnahme an einem Rennen in der UTMB Woche zu ermöglichen. Der UTMB in Chamonix ist und bleibt das Highlight der Ultratrail Szene. Wir sehen uns wieder Mont Blanc!

    Foto: Gritt Liebing

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