Eine echt starke Leistung vom Traildorado Team, dass es gerade in Covid-19 Zeiten so ein Event auf die Beine gestellt hat. Gänsehaut und Dankbarkeit in Dauerschleife, so mein Fazit.
    Foto: Gritt Liebing

    Die Buchstaben huschen durch meine Synapsen, so wie die Gedanken während der 24 Stunden durch den Arnsberger Wald beim Traildorado 2020. Das Erlebte zu sortieren, ist fast genauso herausfordernd wie in meinem Fall 102 Kilometer zu laufen oder eben auch den Tofane mit seinen 3.244 Metern zu besteigen. Die Herausforderungen eines jeden Teilnehmers des Traildorado 2020 sind sicher so unterschiedlich wie die Menschen an sich.

    Jeder hat seine Wünsche und Ziele und doch sind wir in diesen 24 Stunden alle eine große Gemeinschaft. Läufer, Betreuer, Helfer, Orga-Team, Rotes Kreuz, Feuerwehr – alle gefangen im Traildorado-Fieber. „We’re Traildorado“, der Song von Andy Jones, dessen Premiere alle Starter miterleben durften und der so passend die Geschichte der Veranstaltung erzählt und alle  Beteiligten zu einem „wir“ vereint – zumindest für 24 Stunden. Es entstehen in diesen Stunden immer neue Bekanntschaften, aus denen echte Freundschaften wachsen, so zumindest meine Erfahrung in Sachen Traildorado. Und selbst wenn man kaum ein Wort wechselt, man begegnet sich mit Respekt und Toleranz. 

    „Halleluja“ tönt eine warme Männerstimme begleitet von sanften Gitarrentönen durch den Wald. Ich klatsche Beifall und die Augen laufen über… Tränen habe ich einige gesehen in den 24 Stunden – nicht nur bei mir. Katharina, genannt Kasia, gehört zu diesen Menschen. Wie ein Uhrwerk läuft sie immer wieder an mir vorbei, mal fröhlich, mal verzweifelt und immer wechseln wir ein Wort. Am Verpflegungspunkt früh morgens steht sie vor mir, Tränen glitzern in ihren Augen, sie ist müde, platt, ihr tut alles weh, aber sie führt bei den Frauen. Einige Stunden später soll sie nach einer kurzen Pause in einer fulminanten Aufholjagd den Sieg bei den Frauen über die Ziellinie bringen und diesmal sehe ich Tränen der puren Freude. Und ich verdrücke mir vor Freude auch ein Tränchen für die sympathische Läuferin.

    Intensive Momente teile ich mit so vielen: Karina aus Berlin, eine echte Frohnatur, von deren Mann ich kurzfristig den Startplatz übernehmen konnte; Josh und Alex, mit denen mich ein besonderes Laufabenteuer auf Ameland verbindet; Andi, Björn und Hanna, meine Zimmergenossen; Krissy, die ich von meiner ersten Traildorado Teilnahme kenne und mit der mich nicht nur die Liebe zum Laufen, sondern auch die zu Tieren verbindet; Regine und Sandra, mit denen ich einen gemeinsamen Freund teile, sie aber leider vorher noch nie persönlich getroffen habe. Und Begegnungen mit mir völlig Unbekannten, mit denen man einfach mal ein paar Worte wechselt oder eben auch nicht, weil jeder in seinem ganz eigenen Rennen ist. So wie auch ich.

    Und jede Runde ist da noch die Begegnung mit dem Kasten, dem Rundenzählomat wie ich ihn nenne. Er kann sprechen und das tut er auch. Dabei spuckt er nicht nur die gelaufene Rundenzahl aus, sondern auch lustige Sprüche, die das Traildorado Team beim geselligen Beisammensein zusammenstellte: „Du bist der Hammer, weiter so!“, „Das Wetter macht dir wohl nichts aus. Lauf weiter!“, „Du Maschine“, „Fantastisch! Gönn dir noch eine Runde!“, „Jetzt nochmal alles geben!“ Anfänglich noch schmunzelnd, gebe ich dem Kasten irgendwann Antworten: „Wetter ist mir egal, haste recht!“ und „Na klar, ich gönn mir was, du mich auch!“ oder „Nix mehr da zum Geben!“

    Vielleicht ist das eine Idee für kommende Traildorados, dass man die Antworten aufzeichnet, wäre sicher der totale Brüller. Vielleicht wäre es aber teilweise auch nicht jugendfrei oder der Zählomat wäre beleidigt und würde seine Arbeit verweigern, aber lustig wäre es auf jeden Fall. Und letztlich sollte man bei allen Ambitionen und Ehrgeiz nie den Spaß am Laufen und den Humor völlig beiseite legen. 

    Ich füge im Kopf Puzzleteile meiner Gedanken zusammen, sortiere Erlebnisse und Gefühle nicht nur von diesem Jahr. Ab und zu löse ich Rechenaufgaben – in der Schule habe ich das gehasst, beim Laufen hilft mir das, den Schmerz und die Ermüdung zu ignorieren. Ein Sonnenuntergang, der den Himmel in ein loderndes Feuer zu verwandeln scheint, genau wie Pferde und Kühe, Moos und Tannennadelduft füllen mich emotional aus. Ich freue mich über einen kleinen Frosch der im Lichtkegel meiner Stirnlampe über meinen Schuh hüpft und über Feuersalamander, die meinen Weg kreuzen. Fast gespenstisch leuchtet der Mond durch den dunklen Wald und Sterne blitzen auf, wenn die Wolken den Himmel freigeben. Die Nacht umarmt mich, ich mag dieses völlig eins werden mit der Natur, was mir nur bei ganz langen Läufen und Nachts gelingt. Der Wind, der Regen, die Kälte, alles Teil der Natur, für mich kein Hindernis, sondern eher wie ein Schub nach vorne. Die Käuze rufen und im Gebüsch leuchten hellgrün die Augen einer Katze. Die Gedanken gleiten einfach so dahin, beißen sich nirgendwo fest. Ich liebe das Leben in diesen Momenten am meisten. 

    Der steilste Anstieg der Strecke kann durch eine weniger steile, aber etwas längere Strecke, die „Pussy Lane“ umgangen werden. Die beiden Varianten werden schon im Vorfeld von den Teilnehmern heiß diskutiert und das Feld spaltet sich in Pussy oder nicht Pussy. Mein Plan war deutlich, ohne die Pussy Lane auszukommen, aber Pläne und Realität passen eben oft nicht zusammen. Die Anstiege erscheinen mir von Runde zu Runde steiler und meine Konzentration lässt nach, denn das Laufen funktioniert irgendwie automatisch und so passiert gegen 4 Uhr morgens ein Malheur: Ich biege auf die Pussy Lane ab, aber ohne es zu merken, bis mir die Stirnlampe eines anderen Läufers von der Originalstrecke entgegen leuchtet. Ich bin verwirrt: „Wo kommt der denn her?“ denke ich mir, um dann festzustellen, dass ich genau ab jetzt Pussy bin. Ich wollte es ja vermeiden, aber einmal auf die Pussy Lane abgebogen, bleibe ich ihr bis zum Ende der 24 Stunden treu – meine Beine danken es mir. Aber egal ob Pussy oder nicht Pussy, am höchsten Punkt dieses Anstieges wartet immer der „Grinsenator“, so nenne ich den Smiley, der dort Runde für Runde lächelt. Was hinter seinem Lächeln steckt, bleibt mir auch nach 25 Runden verborgen. Er bleibt der große Unbekannte.

    Die Einsamkeit der Strecke mit eigenem Kopfkino steht im krassen Gegensatz zur Verpflegungsstelle. Mitternacht, Bergfest und die lustigen Totenköpfe tanzen zu buntem Blinkelicht. Die Traildorado-Crew fuchtelt mit bunten Leuchtstäben und singt dabei den Körperzellen Rock. Mampfend und trinkend kann ich zwar nicht mitsingen, aber die glücklichen Zellen begleiten mich die nächsten 12 Stunden. Aber nur glücklich waren meine eigenen Zellen nicht. Der Schmerz tanzte mit und allein der Wille trieb den erschöpften, schlaflosen Körper voran. Ein Zustand fast wie schlafend, aber eben mit offenen Augen. Ich zehre genau davon sehr lange, kann den Stress im Alltag abschütteln und mich dorthin denken, wo alles so frei und problemlos scheint und in dem Moment auch ist. 

    Dankbar und erfüllt, reich beschenkt mit Medaille, wundervollen Begegnungen, toller Musik, leckerem Essen und einem „renovierten Ich“ kehre ich zurück nach Hause und weiß, Traildorado kann viel mehr als nur Laufen durch’s Gelände. 

    We're Traildorado / Foto: Gritt Liebing
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